Die Proteste in Iran könnten Auswirkungen auf die ganze Region haben

Teheran geht mit grosser Härte gegen die landesweiten Proteste in Iran vor. Es wird aber schwierig sein, die aufkommende Kulturrevolution gänzlich einzudämmen. Die Proteste haben zudem das Potenzial, die ganze Nahostregion weiter zu destabilisieren.

Gastkommentar

Homayoun Alizadeh

22.02.2023, 05.30 Uhr

Ayatollah Ali Khameni bei Festivitäten in Teheran.
Ayatollah Ali Khameni bei Festivitäten in Teheran.Imago

Der Fall der jungen Iranerin Mahsa Jina Amini, die am 13. September 2022 wegen Verstosses gegen die islamischen Kleidervorschriften verhaftet wurde und drei Tage später aufgrund ihrer Misshandlung auf der Polizeistation verstarb, löste eine landesweite Protestwelle unter Frauen und Jugendlichen aus. Es ist der Aufschrei der iranischen Bevölkerung gegen die 44 Jahre Unterdrückung und Misswirtschaft der Regierenden in der Islamischen Republik Iran.

Wir sind heute Zeugen einer beginnenden Kulturrevolution, einer Art iranischer Wiedergeburt, basierend auf den alten iranischen Kulturen, die vor der Einführung des Islams in der Zeit der Herrschaft der Sassaniden bestanden hat.

Keine politische Ideologie

Die neue Protestbewegung wünscht sich ein freies, demokratisches und politisches System in Iran, das auf der Achtung der Menschenrechte und des Pluralismus beruht. Also eine Trennung von Staat und Religion bzw. Islamismus. Die neue postrevolutionäre Generation verfolgt keine bestimmte politische Ideologie im klassischen Sinne und nutzt hauptsächlich digitale Plattformen, um mit der Welt zu kommunizieren. 

Auch diesmal wird das iranische Regime versuchen, die Revolten brutal niederzuschlagen, um zu überleben. Mit der Hinrichtung von bereits zwei jungen Demonstranten verfolgt die herrschende Klasse eine harte Linie. Gemäss Berichten sind derzeit 26 Personen zum Tode verurteilt und über 24 000 Personen in Haft. Junge Mädchen wurden vergewaltigt, nachdem sie von den Sicherheitskräften verhaftet und später wieder freigelassen worden waren. Es gibt auch Berichte darüber, dass inhaftierte Personen mit Drogen behandelt werden, um ihren Willen zu brechen – und dass Sicherheitskräfte mit Hartplastikkugeln direkt auf die Augen von über 500 Demonstranten geschossen haben.

Die Situation in der Nahostregion

Die Situation in Iran hat Auswirkungen auf die ganze Region. Wir wissen, dass die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas eng miteinander verflochten sind. Das haben auch die arabischen Aufstände im Jahr 2011 gezeigt. Damals verbreiteten sich die Proteste, die zuerst in Tunesien ausbrachen, wie ein Lauffeuer in der gesamten Region. Zudem konnten mehrere Regierungen voneinander «lernen», wie sie Strategien zur Eindämmung und Unterdrückung dieser Aufstände entwickeln können.

Angesichts der Globalisierung können die inneren Angelegenheiten von Nationalstaaten nicht mehr «rein innerstaatlich» betrachtet werden. Die jüngsten Entwicklungen in Iran bedeuten denn auch einen Wendepunkt für die Zivilgesellschaften in der gesamten Nahostregion. Der Aufstand in Iran offenbart die typischen Schwächen eines schlecht funktionierenden und repressiven politischen Systems. Die Ordnung und die Stabilität von Regierungen in der Region könnte wie folgt untergraben werden.

Die bestehenden Regime in der Region und insbesondere am Persischen Golf sind anfällig für Spillover-Effekte. So könnten einerseits verschiedene mit Iran rivalisierende Regierungen, insbesondere Israel und andere arabische Länder in der Region – wie etwa Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate –, von der Instabilität der Islamischen Republik profitieren und sich einen strategischen Vorteil davon versprechen, dass ihr regionaler Rivale in ernsthafte innenpolitische Schwierigkeiten gerät.

Andererseits sollten sich die arabischen Staaten aber auch darüber im Klaren sein, dass die Unruhen in Iran auch ihre eigenen Zivilgesellschaften inspirieren könnten – etwa in Syrien oder in Libanon. Beide Länder befinden sich in einer schwierigen Lage. Libanon leidet noch immer unter den Protesten von 2019, die durch eine chronische Wirtschaftskrise ausgelöst wurden. Das Land kann sich unter dem Fortbestehen eines starren, sektiererischen politischen Systems nicht davon erholen.

Syrien wiederum, das sich inmitten eines langsamen und schwierigen Wiederaufbauprozesses befindet, verdankt das Überleben seines Regimes auch Teheran und ist auf Investitionen sowie auf politische Unterstützung aus Iran angewiesen, vor allem auch weil Russland dies aufgrund des Krieges in der Ukraine möglicherweise nicht mehr leisten kann. Wenn Teheran aufgrund der inneren Unruhen seine aussenpolitischen Ambitionen zurückbindet, könnten Syrien und die Hizbullah zunehmend isoliert werden, was andere Akteure in der Region ausnützen könnten.

Es ist schwer vorherzusagen, wie sich die iranischen Proteste im Inneren entwickeln und welche Auswirkungen sie auf die umliegenden Länder haben werden. Angesichts der autoritären Gegenreaktion in der Region nach den Aufständen von 2011 haben die Proteste jedoch das Potenzial, die ganze Region weiter zu destabilisieren.

Homayoun Alizadeh ist gebürtiger Iraner. Er war im Innenministerium in Wien im Flüchtlingsbereich sowie für das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte in Afrika, Asien und Genf tätig (www.alizadeh.eu).