Iran und die Sehnsucht der Menschen nach einem normalen Leben

Mit den Protesten in Iran ist das erste Mal in der jüngeren Geschichte der Region ein landesweiter Aufstand durch den Tod einer jungen Frau ausgelöst worden. Das macht die Protestwelle so besonders.

Posted in: Neue Zürcher Zeitung – 08.11.2022, 05.30 Uhr

Homayoun Alizadeh

Der Widerstand der Frauen in Iran ist zu einer weltweiten Protestbewegung angewachsen – im Bild eine Demonstration in Berlin.
Maja Hitij / Getty


Mit dem Tod der jungen Frau, Mahsa Amini, die von den «Sittenwächtern» wegen Nichtbeachtung der islamischen Hijab-Vorschrift verhaftet worden und in der Folge durch Schläge auf den Kopf verstorben ist, brach eine neue Ära in der 43-jährigen Geschichte des Bestehens der Islamischen Republik Iran an.

In den vergangenen Wochen gingen vor allem junge Menschen in achtzig Städten Irans auf die Strassen, um gegen die Tötung von Mahsa Amini zu protestieren. «Zan, zendegi, azadi» («Frau, Leben, Freiheit») ist der Hauptslogan der gegenwärtigen Proteste in Iran. Das Lied «Baraye» («Dafür») des jungen Shervin Hajipour ist zur Hymne der Nation geworden und beschreibt bildlich die gegenwärtige Lage in der Islamischen Republik Iran: «In einem aufgezwungenen Paradies», «Dafür, dass man die verfaulten Gehirne austauscht . . . Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben».

Verbrennung von Kopftüchern

Die öffentliche Verbrennung von Kopftüchern ist zu einem Symbol des Kampfes gegen die Unterdrückung der Frau im islamischen Gottesstaat geworden. Eine solche Protestaktion hat es noch nie gegeben.

Die zentrale Bedeutung der Frauenrechte für den heutigen Aufstand unterscheidet ihn von früheren Beispielen politischer Frauenmobilisierung in Iran und macht ihn einzigartig unter den jüngsten Massenbewegungen im Nahen Osten im weitesten Sinne.

Vom Arabischen Frühling 2010/11 bis zur Revolution im Sudan 2019 sind die Proteste in der Region oft nach dem Tod junger Männer ausgebrochen. Dies ist das erste Mal in der jüngeren Geschichte der Region, dass ein landesweiter Aufstand durch den Tod einer jungen Frau ausgelöst wurde – noch dazu einer Angehörigen einer ethnischen Minderheit.

Die Protestwelle in Aminis Namen ist ein Zeichen für die breite Unterstützung der politischen Macht und Handlungsfähigkeit von Frauen, die für den politischen Wandel in Iran von zentraler Bedeutung sind, und unterstreicht gleichzeitig den geschlechtsspezifischen Charakter der Unterdrückung durch den islamischen Gottesstaat.

Der Umstand, dass ihre kurdische Identität eine landesweite multiethnische Solidarität hervorgerufen hat, ist ein weiteres besonderes Merkmal dieser spezifischen Frauenbewegung in der Region. Dieser Aufstand unterscheidet sich auch deshalb von vergangenen Protesten, weil er sichtbar und beharrlich von Frauen angeführt wird. Von Protesten im Strassenverkehr bis hin zu Massendemonstrationen symbolisieren Frauen nicht nur die Freiheit, sondern sie gehen auch enorme Risiken ein. In einigen Fällen verloren sie sogar ihr Leben, wie etwa Nika Shakarami, Sarina Esmailzadeh, Mahsa Mougouyi, Hannaneh Kia sowie Hadis Najafi, der aus nächster Nähe in den Kopf geschossen wurde.

«Tod dem Diktator»

Die jüngsten Bilder der Proteste mit dem Slogan «Tod dem Diktator» ähneln jenen von 1979 mit dem Ruf, der damals den Schah gestürzt hat. Die Frage ist nun, ob die Ayatollahs dasselbe Schicksal ereilen wird. Proteste hat es schon früher gegeben.

Seit 2017 finden kontinuierliche Proteste der verschiedenen Bevölkerungsschichten gegen das Regime statt. Während in den früheren Protesten die Demonstranten für Freiheit, Demokratie und politische Reformen innerhalb des Systems plädierten, fordern die heutigen Frauen und eine junge Generation, die etwa ein Drittel der rund 86 Millionen Einwohner Irans ausmacht, das Ende des islamischen Gottesstaates und der Mullah-Theokratie.

Von Ardebil über Kurdistan bis Zahedan im Süden des Landes gehen Menschen auf die Strassen und fordern den Sturz des Regimes. Die Frauen- und Jugendbewegung hat das korrupte und repressive System der Mullahs einfach satt und wehrt sich vehement gegen jahrzehntelange Bevormundung, mörderische, freiheitsfeindliche und schlafzimmerschnüffelnde Theokratie. Eine junge Generation, die bis dato keine Führerin hat und gänzlich auf sich gestellt ist.

Die heutige Frauen- und Jugendbewegung sehnt sich nach einem normalen Leben. Sie wünscht sich eine iranische Regierung, die den Willen der gesamten iranischen Bevölkerung widerspiegelt. Sie träumt von einem freien, demokratischen und auf Menschenrechten basierenden Iran. Einem Iran, das keine Revolution mehr exportiert, eine Entspannungspolitik in der Region betreibt und seine Ambitionen im Bereich des nuklearen Wettrüstens aufgibt.

Um ein normales Leben zu ermöglichen, muss die heutige Frauen- und Jugendbewegung nicht nur das Regime abschütteln, sondern auch einen Bürgerkrieg vermeiden. Viele Beobachter fürchten einen Bürgerkrieg wie in Syrien und Libyen.

Die Frauen- und Jugendbewegung wehrt sich gegen jahrzehntelange Bevormundung, mörderische, freiheitsfeindliche und schlafzimmerschnüffelnde Theokratie.

Die Proteste in Iran haben auch eine weltweite Solidarität mit den iranischen Frauen und der jungen Generation ausgelöst. Der Hashtag «Mahsa Amini» wurde auf Twitter weltweit über 338 Millionen Mal geteilt. Die neue Revolution in Iran hat auch die im Ausland lebenden Iraner und Iranerinnen dazu veranlasst, sich trotz Jahrzehnten politischer Streitigkeit und Uneinigkeit zusammenzuschliessen und in grossen Städten Europas, Amerikas und Kanadas zu Hunderttausenden auf die Strasse zu gehen, um das Ende der Islamischen Republik Iran zu fordern.

Trotz Hunderten Toten unter jungen Menschen und über zwölftausend Verhaftungen in den letzten sechs Wochen ist es den Sicherheitskräften bis jetzt nicht gelungen, den Volksaufstand niederzuschlagen. Es sind auch Fälle bekannt, in denen junge Frauen nach ihrer Verhaftung durch Sicherheitskräfte an unbekannte Orte gebracht und dort vergewaltigt und nachher freigelassen wurden.

Aufgrund der herrschenden Stigmatisierung innerhalb der iranischen Gesellschaft schweigen diese jungen Frauen und erzählen nicht einmal ihren nächsten Angehörigen, was mit ihnen während ihrer kurzen Gefangenschaft geschehen ist. In einigen Fällen wurden die Leichen der getöteten jungen Menschen mit Ausnahme des Gesichts mit einem Tuch bedeckt und so den Angehörigen übergeben, damit die Folterspuren nicht sichtbar wurden.

Unmittelbar nach der Übergabe der Leiche mussten die Angehörigen sie in Anwesenheit der Sicherheitskräfte begraben. Es sind auch Fälle bekanntgeworden, bei denen Sicherheitskräften Aufputschmittel verabreicht wurden, um ihre Aggressivität zu steigern und so die Intensität der Niederschlagung aufrechtzuerhalten.

Mullahs zurück in die Moscheen!

Die heutigen Gefängnisse der Islamischen Republik Iran werden als Universitäten für begabte junge Menschen bezeichnet. Zu den Mitgefangenen gehören Frauen, Studenten, Atheisten, schiitische Reformer, Sunniten, Sufi-Mystiker, Bahais, christliche Konvertiten, Arbeiter, Gewerkschafter, Lastwagenfahrer, Ärzte, Intellektuelle, Journalisten, Gelehrte und viele andere.

Sie alle sind sich einig in ihrer Forderung nach Freiheit, Demokratie und vor allem der Trennung von Staat und Religion. Die Mullahs gehören laut ihnen zurück in die Moscheen und sollen nichts mehr mit der Staatsführung zu tun haben.

Niemand kann vorhersagen, ob die Bewegung in Iran Erfolg haben wird oder ob sich das herrschende Regime noch einmal durchsetzen wird. Aber der Kampf gegen die frauenfeindliche Politik und die patriarchalischen Werte wird wahrscheinlich weitergehen, egal was in Zukunft geschehen wird. Selbst wenn die Proteste nicht zum Sturz des Regimes führen, könnten die jetzigen Rufe «Frau, Leben, Freiheit» die soziale und politische Landschaft Irans verändern. Und es haben sich Allianzen zwischen so unterschiedlichen Gruppen wie Schülerinnen, Lehrern, Sportlern, Künstlern, Ölarbeitern und anderen ethnischen Minderheiten gebildet.

Eines steht fest: Die Frauen haben durch ihren Aufstand einen eigenen sozialpolitischen Status innerhalb der iranischen Gesellschaft errungen. Die Rolle der Frau als blosse Gattin und Hausfrau gehört mit der Frauenbewegung in Iran bereits der Vergangenheit an. Es steht auch fest, dass mit dieser Frauenbewegung und Jugendrevolte das islamische Regime in grösseren Schwierigkeiten steckt als jemals zuvor seit dem Sturz des Schahs im Jahr 1979.

Die Proteste könnten wie in der Vergangenheit brutal niedergeschlagen werden. Doch dieses Mal besteht zumindest die Chance, dass sie andauern werden. Mit dieser Frauen- und Jugendbewegung könnten aber auch die Fundamente der Islamischen Republik tatsächlich zu wackeln beginnen, womit der Anfang vom Ende der Islamischen Republik Iran sich in naher Zukunft abzeichnen könnte.

Homayoun Alizadeh ist gebürtiger Iraner. Er war im Innenministerium in Wien im Flüchtlingsbereich sowie für das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte in Afrika, Asien und Genf tätig (www.alizadeh.eu).