Die Islamische Republik vor einer Zerreißprobe
22.11.2019 um 18:39

Irans Regime versucht mit allerlei Maßnahmen zu verschleiern, dass es mit einem Volksaufstand konfrontiert ist.
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Die am 15. November nach Ankündigung einer Benzinpreiserhöhung ausgebrochenen schweren Unruhen im Iran sind im Grunde genommen die Fortsetzung der im Dezember 2017 aufgeflammten Proteste der Bevölkerung. Die Proteste damals richteten sich nicht nur gegen die Wirtschaftsmisere und hohe Jugendarbeitslosigkeit, sie waren auch Ausdruck der landesweiten Ablehnung eines korrupten und repressiven Systems.
Seit 2017 haben zahlreiche Streiks in verschiedenen iranischen Städten stattgefunden, zahlreiche Streikführer sind verhaftet und zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt worden. Die Streiks der Lastwagenfahrer, Lehrer, Angestellten (etwa im Imam-Khomeini-Spital) und Arbeiter verschiedener Fabriken sind auffällige Indizien dafür, dass das gegenwärtige Regime im Iran nicht in der Lage ist, den elementaren Bedürfnissen der eigenen Bevölkerung nachzukommen. Auslöser der gegenwärtigen Proteste war dieses Mal die Ankündigung einer Erhöhung der Benzinpreise um 200 Prozent.
Eine landesweite Rebellion
Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei hat sich einen Tag nach Ausbruch der Unruhen, die sich auf viele Städte des Landes ausbreiteten, zu Wort gemeldet. Einerseits hat er die Benzinpreiserhöhung – die von Präsident Hassan Rohani, vom Parlamentspräsidenten Ali Larijani und nicht zuletzt vom Obersten Richter Ebrahim Raeesi gemeinsam beschlossen worden war – als gerechtfertigt bezeichnet; andererseits hat er die Demonstranten als vom Ausland gelenkte „Banditen“ diskreditiert.
Das sind eindeutige Anzeichen dafür, dass diesmal im Vergleich zu den Unruhen von 2017 weitaus mehr Menschen auf die Straßen gegangen waren, um ihren Unmut gegen die Regierung zu artikulieren. Bei den Unruhen 2017 reagierte das Regime erst nach Tagen − und brandmarkte die Demonstranten als „Saboteure“.
Nach Augenzeugenberichten sind die iranischen Sicherheitskräfte mit brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vorgegangen, die in mehr als 100 Städten die miserable Wirtschaftslage, hohe Arbeitslosigkeit, Verteuerung der lebenswichtigen Güter sowie Korruption und Machtmissbrauch anprangerten. Während die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die Zahl der Toten mit mindestens 106 Demonstranten in 21 Städten angab, war in staatlichen Medien von lediglich neun Toten die Rede. Amnesty schätzt, dass die Zahl der Todesopfer aber sogar noch weitaus höher liegen könnte, bis zu 200.
Die Regierung verhängte seit Ausbruch der Unruhen vorübergehend eine totale Nachrichtensperre, das Internet wurde zeitweise im ganzen Land abgeschaltet. Staatliche Medien berichteten, dass nach Beginn der Proteste bis zum 18. November mehr als 1000 Demonstranten festgenommen worden seien. Auch hier dürfte die tatsächliche Zahl der Verhafteten viel höher liegen.
Mehrere Augenzeugen haben berichtet, dass Sicherheitskräfte und Geheimdienstleute Leichen und Verletzte von den Straßen und aus Krankenhäusern weggebracht hätten. Die Übergabe der Leichen vieler Opfer an ihre Familien sei verweigert oder Familien gezwungen worden, ihre getöteten Angehörigen im Eiltempo und ohne unabhängige Autopsie zu nächtlicher Stunde zu begraben.
Dass die Demonstranten, ohne auf die Konsequenzen zu achten, derart massiv gegen staatliche und religiöse Einrichtungen losgegangen sind, zeigt nur, wie groß ihre Wut auf die Machthaber und ihre Verzweiflung wegen der katastrophalen Lebensumstände sind. Die massive Präsenz der Polizei, von „Basiji“ (einer Art Miliz der Revolutionsgarden) und anderen in Zivil gekleideten Sicherheitsleuten in den Straßen und an strategisch wichtigen Plätzen wiederum ist ein Hinweis darauf, dass sich das Regime der Protestwelle weiter mit aller Härte entgegenstellen will. Es ist daher zu befürchten, dass es noch mehr Tote geben könnte.
Impulse aus Beirut und Bagdad
Manche Beobachter gehen davon aus, dass die vor Wochen ausgebrochenen Unruhen im Irak und im Libanon auch die iranische Bevölkerung dazu ermutigt hätten, auf die Straßen zu gehen, um gegen das theokratische Regime, das die Bevölkerung bereits seit 40 Jahren unterdrückt, zu protestieren. Es liegt auf der Hand, dass im Nahen und Mittleren Osten eine neue Generation herangewachsen ist, die sich das Sektierertum, die Korruption und den Machtmissbrauch der jeweiligen Regierungen nicht mehr gefallen lassen will.
Sie sind nicht mehr länger bereit, im Zustand der Hilflosigkeit und der Ohnmacht zu verharren. Die Proteste im Irak und im Libanon haben auch gezeigt, dass die dortige Bevölkerung es vehement ablehnt, dass ihre jeweiligen Regierungen wie Vasallen der Islamischen Republik Iran agieren. Sie wehren sich gegen die unverhohlene Einflussnahme Teherans auf ihre eigenen Regierungen.
Erinnerungen an 1979
Die jetzigen Unruhen erinnern an den Volksaufstand gegen das Schah-Regime von 1979. Der große Unterschied ist, dass sich im Zuge der damaligen Ereignisse Ayatollah Khomeini als Führer der Protestbewegung herauskristallisierte, während die heutige iranische Opposition ohne eine anerkannte Integrations- und Führungsfigur dasteht. Die oppositionellen Kräfte waren bis dato nicht imstande, eine Einheitsfront gegen das Regime zu bilden.
Die Frage stellt sich nun, wie sich die Lage im Iran langfristig entwickeln wird und wohin die Protestaktionen führen könnten. Fest steht, dass sich Irans Regime sowohl innen- als auch außenpolitisch in einer Sackgasse befindet.
Es ist nicht in der Lage, die wirtschaftliche und politische Situation im Land zu verbessern. Seit Verhängung der US-Sanktionen hat sich die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung immer mehr verschlechtert, und es gibt praktisch keine Chance auf eine Verbesserung. Außenpolitisch hat sich der Iran in die internationale Isolation manövriert, Freunde in der Region hat er nur noch wenige.
Die Frage, ob andauernde Unruhen, die zu Desintegration und anhaltender Instabilität führen könnten, unzufriedene Teile des Regimes oder der Revolutionsgarden dazu bewegen könnten, die Regierung von Präsident Rohani zu stürzen und eine Militärregierung zu bilden, ist schwer zu beantworten. Es darf auch nicht übersehen werden, dass sich in den vergangenen 40 Jahren eine große Gruppe von Nutznießern des theokratischen Regimes herausgebildet hat, die auch jetzt hinter den Machthabern steht.
Weiter Weg zur Demokratie
Eine Militärregierung könnte sich wie im Sudan seit den 1980er-Jahren einzementieren. Sie würde wohl die bisherige Politik der Islamischen Republik fortsetzen und gleichfalls jegliche Opposition im Keim zu ersticken versuchen.
Die Islamische Republik steht vor einer Zerreißprobe, die noch zu einer Herausforderung für ihre weitere Existenz werden könnte. Sicher ist nur, dass im Iran der Weg zur Demokratie und zur Achtung der Menschenrechte ein sehr, sehr weiter ist.
E-Mails an:debatte@diepresse.com
DER AUTOR
Homayoun Alizadeh (*1952 in Zürich) ist iranischer Abstammung. Er studierte Politik und Rechtswissenschaften an der Universität Wien und absolvierte die Diplomatische Akademie in Wien. Er war mehrere Jahre im Innenministerium im Flüchtlingsbereich tätig und von 1995 bis 2014 leitender Funktionär des UN-Hochkommissars für Menschenrechte in Afrika, Asien und in Genf.
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 23.11.2019)
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