Die Sehnsucht nach einem normalen Leben im Iran

Die Protestwelle in Mahsa Aminis Namen ist Zeichen für die breite Unterstützung der politischen Macht von Frauen im Iran.

04.11.2022 um 17:02
von Homayoun Alizadeh

Mit dem Tod der jungen Frau Mahsa Amini, die von den „Sittenwächtern“ wegen Nichtbeachtung der islamischen Hijab verhaftet und in der Folge durch Schläge auf den Kopf verstorben ist, brach eine neue Ära in der 43-jährigen Geschichte des Bestehens der Islamischen Republik Iran an. Seit Wochen gehen vor allem junge Menschen im Iran auf die Straßen, um gegen die Tötung von Mahsa Amini zu protestieren. „Zan, Zendegi, Azadi – Frau, Leben, Freiheit“ sind die Slogans dieser Proteste. Das Lied des jungen Sherwin Hadjipour „Baraye – Dafür“, ist zur Hymne der Nation geworden, und es beschreibt die Lage in der Islamischen Republik Iran bildlich: „Dafür, dass man die verfaulten Gehirne austauscht“ – „Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben.“


Die öffentliche Verbrennung von Kopftüchern ist zum Symbol des Kampfes gegen die Unterdrückung der Frau im islamischen Gottesstaat geworden. Eine solche Protestaktion hat es noch nie gegeben. Die zentrale Bedeutung der Frauenrechte für den heutigen Aufstand unterscheidet ihn von früheren Beispielen politischer Frauenmobilisierung im Iran und macht ihn einzigartig unter den jüngsten Massenbewegungen im Nahen Osten im weitesten Sinne.

Vom Arabischen Frühling 2010/11 bis zur Revolution im Sudan 2019 sind die Proteste in der Region oft nach dem Tod junger Männer ausgebrochen. Dies ist das erste Mal in der jüngeren Geschichte der Region, dass ein landesweiter Aufstand durch den Tod einer jungen Frau ausgelöst wurde. Die Protestwelle in Aminis Namen ist ein Zeichen für die breite Unterstützung der politischen Macht und Handlungsfähigkeit von Frauen, die für den politischen Wandel im Iran von zentraler Bedeutung sind. Dieser Aufstand unterscheidet sich auch deshalb von vergangenen Protesten, weil er sichtbar und beharrlich von Frauen angeführt wird, von kleinen Aufständen im Straßenverkehr bis zu Massendemonstrationen. Tausende Frauen gehen enorme Risken ein, in vielen Fällen verloren sie sogar ihr Leben, wie etwa Nika Shakarami, Sarina Esmailzadeh, Mahsa Mougouyi, Hannaneh Kia sowie Hadis Najafi, der aus nächster Nähe in den Kopf geschossen wurde.

Die jüngsten Bilder der Proteste mit dem Slogan „Tod dem Diktator“ ähneln dem Ruf, der 1979 den Schah gestürzt hat. Die Frage ist nun, ob die Ayatollahs dasselbe Schicksal ereilen wird. Proteste hat es schon früher gegeben. Seit 2017 finden kontinuierliche Proteste der verschiedenen Bevölkerungsschichten gegen das Regime statt. Während in den früheren Protesten die Demonstranten für Freiheit, Demokratie und politische Reformen innerhalb des Systems plädierten, fordern die heutigen Frauen und eine junge Generation, die etwa ein Drittel der rund 86 Millionen Einwohner des Irans ausmacht, das Ende des islamischen Gottesstaates und der Mullah-Theokratie. Von Ardebil über Kurdistan bis Zahedan im Süden des Landes gehen Menschen auf die Straßen und fordern den Sturz des Regimes. Die Frauen- und Jugendbewegung hat das korrupte und repressive System der Mullahs einfach satt und wehrt sich vehement gegen jahrzehntelange Bevormundung, mörderische, freiheitsfeindliche und schlafzimmerschnüffelnde Theokratie. Eine junge Generation, die bis dato keine Führerin hat und gänzlich auf sich gestellt ist.

Angst vor einem Bürgerkrieg

Die heutige Frauen- und Jugendbewegung sehnt sich nach einem normalen Leben. Sie träumt von einem freien, demokratischen und auf Menschenrechten basierenden Iran. Um ein normales Leben zu haben, muss die Bewegung aber nicht nur das Regime abschütteln, sondern auch einen Bürgerkrieg vermeiden. Viele Beobachter fürchten einen Bürgerkrieg wie in Syrien und Libyen.

Die Proteste im Iran haben eine weltweite Solidarität mit den iranischen Frauen und der jungen Generation ausgelöst. Die neue Revolution im Iran hat auch die im Ausland lebenden Iraner und Iranerinnen dazu veranlasst, sich zusammenzuschließen und in großen Städten Europas, Amerikas und Kanadas zu Hunderttausenden auf die Straße zu gehen, um das Ende der Islamischen Republik Iran zu fordern.


Trotz Hunderter Toter und mehr als 12.000 Verhaftungen in den vergangenen sechs Wochen ist es den Sicherheitskräften bisher nicht gelungen, den Volksaufstand niederzuschlagen. Es sind auch Fälle bekannt, in welchen junge Frauen nach ihrer Verhaftung durch Sicherheitskräfte an unbekannte Orte gebracht, vergewaltigt und nachher freigelassen wurden. Aufgrund der herrschenden Stigmatisierung innerhalb der iranischen Gesellschaft schweigen diese jungen Frauen und erzählen nicht einmal ihren nächsten Angehörigen, was mit ihnen während ihrer kurzen Gefangenschaft geschehen ist. In einigen Fällen wurden die Leichen der getöteten jungen Menschen mit Ausnahme des Gesichts mit einem Tuch bedeckt und den Angehörigen übergeben, damit die Folterspuren nicht sichtbar werden. Unmittelbar nach der Übergabe der Leiche mussten die Angehörigen sie in Anwesenheit der Sicherheitskräfte begraben. Es sind auch Fälle bekannt geworden, in denen Sicherheitskräften Aufputschmittel verabreicht wurden, um die Aggressivität des einzelnen Sicherheitsbeamten zu steigern und so die Intensität der Niederschlagung aufrechtzuerhalten.

Die heutigen Gefängnisse der Islamischen Republik Iran werden als Universitäten für begabte und talentierte junge Menschen bezeichnet. Zu den Mitgefangenen gehören Frauen, Studierende, Atheisten, schiitische Reformer, Sunniten, Sufi-Mystiker, Bahais, christliche Konvertiten, Arbeiter, Gewerkschafter, Lastwagenfahrer, Ärzte, Intellektuelle, Journalisten und viele andere. Sie alle sind sich einig in ihrer Forderung nach Freiheit, Demokratie und vor allem der Trennung von Staat und Religion. Die Mullahs gehören zurück in die Moscheen und sollen nichts mehr mit der Staatsführung zu tun haben.

Zurück in die Moscheen

Niemand kann vorhersagen, ob die Bewegung im Iran Erfolg haben wird oder ob sich das herrschende Regime noch einmal durchsetzen wird. Aber der Kampf gegen die frauenfeindliche Politik und die patriarchalischen Werte wird wahrscheinlich weitergehen, egal was in Zukunft geschehen wird. Selbst wenn die Proteste nicht zum Sturz des Regimes führen, könnten die aktuellen Rufe die soziale und politische Landschaft im Iran verändern.

Proteste könnten andauern

Die Frauen haben durch ihren Aufstand einen eigenen sozialpolitischen Status innerhalb der iranischen Gesellschaft errungen. Es steht fest, dass das islamische Regime in größeren Schwierigkeiten steckt als je zuvor. Die Proteste könnten wie in der Vergangenheit brutal niedergeschlagen werden, doch diesmal besteht die Chance, dass sie andauern werden. Mit dieser Frauen- und Jugendbewegung könnten die Fundamente der Islamischen Republik tatsächlich zu wackeln beginnen und vielleicht den Anfang vom Ende der Islamischen Republik Iran bedeuten.

DER AUTOR:

Dr. Homayoun Alizadeh (*1952 in Zürich) ist iranischer Abstammung. Er studierte Politik und Rechtswissenschaften an der Universität Wien und absolvierte die Diplomatische Akademie in Wien. Er war mehrere Jahre im Innenministerium im Flüchtlingsbereich tätig und von 1995 bis 2014 Funktionär des UN-Hochkommissars für Menschenrechte.

Mehr Infos unter: www.alizadeh.eu.